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Virtuelles Archiv zur Sozialgeschichte in der Region Aschaffenburg/Miltenberg

Was ist Provinz?

Über die Arroganz der Metropolen und die Schönheit der Provinz

Lob der Provinz-Linken: „Unsere Genossen auf dem Lande sind immer in der Minderheit, und man versucht, ihnen Angst zu machen: ´Wenn du den Mund aufmachst, schlagen wir dir die Fresse kaputt.´ Ich bewundere jeden einzelnen, der auf einem Dorf Kommunist ist, sich dazu bekennt und es durchsteht. Es gehört viel Mut dazu.“ (Edwin Hörnle, 1883 – 1952)

Der fast schon arrogante Aufruf der Pariser Communarden 1871 „Möge die Provinz sich beeilen!“ beinhaltet auch die Annahme, alles sei Provinz, alles, was nicht Paris ist. Doch Provinz ist vielschichtiger. Für den Berliner (für die Berlinerin, die weibliche oder sonstige Form sei bitte immer als selbstverständlich mitgedacht) ist Frankfurt schon Provinz, für den Frankfurter ist es Hanau, für den Hanauer Aschaffenburg und für den Aschaffenburger Alzenau oder Miltenberg. Dort wird dann zwar akzeptiert, dass die eigene Stadt als Provinz anzusehen ist, jedoch auf Dammbach oder Rüdenau verwiesen, was ja schließlich „tiefste Provinz“ sei. Provinz ist also kein fester Begriff, sondern ein sehr unterschiedliches Verhältnis und vom Wohnort des Betrachters abhängig (und da ist das Metropolen-Provinz-Verhältnis im internationalen Bereich noch gar nicht mitgedacht, denn um dieses soll es hier bewusst nicht gehen).

Zudem ist der Grad der Verprovinzialisierung auch abhängig von der konkreten Ausprägung der kulturellen, infrastrukturellen, ökonomischen und sozialen Bedingungen in einer Region bzw. Stadt. Einigen wir uns also darauf, dass hier mit Provinz die Regionen bezeichnet werden, die keine Metropolen (wie Berlin, Hamburg, München etc.) und auch nicht entsprechend geprägt sind (wie Rhein-Main-Gebiet oder Ruhrpott) und auch nicht den Vorzug einer studentischen Infrastruktur haben (also sind in diesem Sinne auch kleinere Großstädte wie Heidelberg und Freiburg keine Provinz, mögen das die Berliner auch so sehen).

Denn es soll im folgenden darum gehen, die besonderen Bedingungen linker Arbeit in den diese Arbeit besonders erschwerenden Regionen (und das heißt in der Provinz) zu behandeln.

Warum »Provinz-Theorie«?

Das Land, die Provinz, galt nicht nur den oben genannten Pariser Communarden als Hort der Reaktion, gar der Konterrevolution. Auch Albert Herrenknecht schreibt (in seinem Buch „Provinzleben“, 1977) : „Es ist wichtig, auf dem Land zu bleiben, für dort eine Perspektive zu entwickeln, politisch auch dort präsent zu sein und kleine Alternativen aufzubauen. Dies ist wichtig, nicht nur, um die Konterrevolution zu verhindern, sondern auch, um dem politischen Gegner das Land (und das ist nun mal wörtlich zu nehmen) nicht zu überlassen.“ Oskar Negt führt dazu aus, dass „wir aus der Geschichte wissen, dass Revolutionen zwar in den Städten gemacht werden, aber die Konterrevolution vom Lande kommt, von der Provinz.“ (Links-Sondernummer zum SB-Pfingstkongreß 1976)

Und aktuell musste z.B. dpa in einer Meldung über die Kommunalwahlen in Italien vermelden: „Im Gegensatz zu den großen Städten schnitten aber in der Provinz die Rechtsparteien besser ab.“ (Main-Echo, 07.12.1993) Und diese „Rechtsparteien“ sind hier die neofaschistische MSI und die knallrechte Lega Nord. Die Antifaschistische Aktion Passau schließlich schreibt zu diesem Thema: „Gerade in der letzten Zeit haben die Faschistinnen ihre Aktivitäten verstärkt in die Provinz verlagert, um dort möglichst ungestört Aufbauarbeit leisten zu können und um Veranstaltungen durchzuführen.“ (EinSatz!, September 1993)

Bild: Auch weiterhin zieht es die rechten bis ultrarechten Akteure gerne in die Provinz, wo sie hoffen, ungestört agitieren zu können; hier im Februar 2025 in Miltenberg. Foto: fundstuecke.info

Dies zeigt ganz offensichtlich: Ohne Einbindung auch der Provinz, ohne Beschäftigung mit ihren besonderen Gegebenheiten, ohne Antworten, wie mit diesen sinnvoll umgegangen werden kann, ist eine positive Veränderung nicht zu bekommen.

Provinz ist Kolonie im eigenen Land. Die provinzielle Situation macht sich ja gerade dadurch bemerkbar, dass Nahverkehr, Bildungseinrichtungen, kulturelle Angebote, bestimmte qualifizierte Arbeitsplätze etc. überaus ungleich zugunsten der großen Städte verteilt sind. Daraus resultieren einige provinzspezifische Schwierigkeiten für linke Politik. Zum einen gibt es den dauernden Verlust aktiver Menschen durch Wegzug in die Metropolen zwecks Studium oder Aufnahme eines Arbeitsplatzes; dem stehen nur ganz geringfügige Zuzüge gegenüber, etwa, wenn ein linker Lehrer (so etwas soll es ab und zu noch geben) eine Stelle auf dem Land erhält. Ergebnis ist ein personelles Austrocknen linker Strukturen. Zum anderen erschweren die weiten Wege, die durch das Fehlen des öffentlichen Nahverkehrs entstehen, den Aufbau einer linken Szene, da die einzelnen (gerade jüngeren) Linken auf ihren Dörfern und in ihren Kleinstädten oft räumlich voneinander isoliert bleiben.

Die Abwesenheit von bestimmten Bildungseinrichtungen (mit den Serviceangeboten der Studierendenauschüsse etc.) und Kulturzentren macht es auch schwieriger, geeignete Räumlichkeiten und technische Strukturen zu finden, die für den Aufbau einer linken Szene von Bedeutung sind. Ein ganz einfaches Beispiel: Schon der Druck eines Flugblattes kostet in der Provinz das Mehrfache dessen, was in der Metropole mit Kopierläden etc. zu zahlen ist. Dadurch ergibt sich ein erschwerter Aufbau linker Infrastruktur in der Provinz.

In engem Zusammenhang mit dem studiums- oder berufsbedingten Wegzug aktiver Leute steht jene gerade in der Provinz so bedeutungsvolle Geisteshaltung, die ich hier mit Traditions-Konservativismus bezeichnen möchte. Mangels einer ausgeprägten linken Gegenkultur und sicher auch begünstigt durch die stärkere soziale Kontrolle (siehe unten) hält sich in den nicht-großstädtischen Regionen diese Grundhaltung, die mit dem alten CDU-Werbeslogan „Keine Experimente wagen!“ ganz treffend umschrieben ist.

Die schon erwähnte größere soziale Kontrolle macht das Ausscheren aus dem allgemeinen Konsens sicherlich erheblich schwerer als in der Anonymität einer Metropole. Zugleich zeigt sich hier der Doppelcharakter bestimmter provinzspezifischer Bedingungen: Wer schlechter ausscheren kann, ist auch besser eingebunden. Das heißt, eine Ausgrenzung bestimmter Positionen — solange sie in provinzspezifischer Form angeboten werden — ist kaum möglich. Selbst als „Kommunisten“ verschriene Mitglieder einer Jugendinitiative wurden in einer fränkischen Kleinstadt nie wirklich ausgegrenzt, da sie über ihre Eltern („Der ist doch der Sohn von Müllers Hannes.“) oder ihr sonstiges Umfeld („Die war doch in der katholischen Jugend.“) eingebunden waren. Einen Grund zur Idealisierung dieses Umstandes gibt es aber ebensowenig wie einen, die ganzen Provinzen zu weißen Flecken auf der linken Landkarte zu erklären.

Ein nicht unwesentlicher Punkt der Schwäche linker Positionen und Strukturen auf dem Lande liegt in der Linken selbst, im Nachahmen des Metropolengehabes. Zu oft wird versucht, die „geilen“ Aktionen der Metropolen-Linken zu imitieren. Sind diese Aktionsformen in ihrem sektiererischen Gehabe und in ihrer Rücksichtslosigkeit gegenüber der Vermittelbarkeit der Inhalte oft schon in der Stadt einfach nur unsäglich, wird dieses Gehabe in der Provinz entweder lächerlich oder dient nur der völligen Ausgrenzung der Linken.

Schwarz gewandete Demo-Blöcke mögen zwar das Bedürfnis nach radikalerer Performance befriedigen und können sicher auch für das Gruppen-Feeling enorm wichtig sein, dienen aber — gerade auf dem Land — niemals der Unkenntlichkeit (und damit der Unangreifbarkeit durch Polizei oder Nazis) der Teilnehmerinnen, werden also zur sinnentleerten Form. Denn die notwendigerweise kleinen „schwarzen Blöcke“ werden hier erst zum erkennbaren Objekt des Angriffs von außen. Und dass die Vermummten nicht erkannt werden könnten, kann nur der vermuten, der die Provinz nicht kennt.

Ähnliches gilt auch für mit radikalen Phrasen gespickte Flugblätter, die auf dem Land nicht nur keine „Bürgers“ ansprechen, sondern nicht einmal eine linke Szene erreichen können, da es die in der großstädtischen Form gar nicht gibt.

Provinz — was tun?

Um eine linke oder auch nur alternative Kultur in der Provinz zu erhalten bzw. erst zu begründen, müssen demokratische Großorganisationen in die Pflicht genommen werden, um ihre Infrastruktur und ihre technischen, personellen und finanziellen Mittel einzubringen. Dazu gehört auch, eine erleichterte Förderung von Provinzprojekten durch z.B. grüne Stiftungen einzufordern und über die entsprechenden Kreisverbände an diese Stiftungen heranzutreten. Auch muss die Unterstützung von „schwachen“ Regionen durch „starke“, also durch Metropolen auf- bzw. ausgebaut werden. Dazu gehört auch, dass letztere den ersteren Referenten und „Kulturbeiträge“ (kostenlos) zur Verfügung stellen. Die „Fördermitgliedschaft“ von Metropolen-Linken bei Provinzvereinigungen scheint hier auch angezeigt, um den nötigen Kontakt der Metropole zur Provinz herzustellen, Finanzen (Beiträge, Spenden etc.) aus den besser gestellten Regionen an die Provinzen abzuführen, den Informationsfluss aufrecht zu erhalten etc.

Auf dem „flachen Land“ muss schließlich versucht werden, die wenigen Gruppen und Einzelpersonen über gemeinsame Seminare, Treffen und Aktionen zu vernetzen, nach Möglichkeit auch ein von allen Gruppen und Personen getragenes Zentrum in jeder Region einzurichten, wobei die (finanzielle) Unterstützung durch „stärkere“ Regionen (denkbar auch im Rahmen von „Regionalpartnerschaften“) wünschenswert wäre.

Ein weiterer Punkt könnte sein, so etwas wie ein provinzielles Regionalbewusstsein zu schaffen, indem die Geschichte der eigenen Provinz aufgearbeitet wird. Die Kämpfe, Siege und Niederlagen der „linken“ Vorfahren vom Bauernkrieg bis zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus wären hier ebenso aufzuzeigen wie das Leben der „einfachen“ Leute. Eine Geschichtsschreibung also, die der offiziellen mit ihrer Abfolge von Grafen, Königen und Ministern mit ihren „ausbrechenden“ Kriegen und „schicksalshaften“ Zufällen etwas entgegensetzt und dadurch auf eine für uns positive Weise Identität herstellt mit dem eigenen Lebensraum. Dazu gehört es auch, die Geschichte der aktuellen linken Bewegungen in der Provinz selbst zu dokumentieren, um, wie Albert Herrenknecht betont, ein Gefühl dafür zu entwickeln: „Wir haben eine Geschichte!“

Und was tun gegen die Nachahmung des Metropolengehabes? Diesem gegenüber wären gerade in der Provinz Vermittelbarkeit unserer Inhalte und Bündnispolitik nicht nur nötig sondern auch möglich, da es weniger Berührungsängste und Abschottung in den eigenen Politik- und Kulturghettos gibt, was auch für andere Gruppen (von der katholischen Jugend über Wohlfahrtsverbände bis zu Sport- und Kulturvereinen) gilt.

Es soll hier nicht behauptet werden, es gäbe dabei keine Probleme und alles sei so schön provinziell einfach. Aber wenn es darum geht, Hegemonie zu erringen, dann geht an dem Aufgezeigten kein Weg vorbei. Die Möglichkeiten linker Politik liegen irgendwo zwischen Bündnispolitik und dem Achten auf Vermittelbarkeit einerseits und dem Festhalten an eigenen Positionen sowie dem Nichtvereinnahmenlassen andererseits, was zwar nicht nur für die Provinz gilt, hier aber nochmal verschärft zutrifft.

Martin Bayer

geschrieben für die links-alternative Regionalzeitschrift neue hanauer zeitung (nhz, inzwischen eingestellt) Nr. 83, Mai/Juni 1994; erschienen auch in der Zeitschrift arranca! (Berlin) Nr. 4, Sommer 1994; für fundstuecke.info leicht überarbeitet


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