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Es geht voran

Die Auseinandersetzungen um einen Jugendtreff in Miltenberg 2008/2009

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KEINE ATEMPAUSE - Der Podcast von FUNDSTUECKE.INFO
KEINE ATEMPAUSE – Der Podcast von FUNDSTUECKE.INFO
#4 – Es geht voran!
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Außerdem war die JUI und autonome Jugendinitiative Thema in den Folgen #3, #5 und #6 unseres Podcasts KEINE ATEMPAUSE.

Am 31. Oktober 2008 lesen die wenigen an dieser Thematik noch interessierten Miltenberger/innen in der Regionalzeitung Bote vom Untermain: „Bürgermeister lässt Räume der JUI schließen.“ Unter dieser Überschrift wird das Stadtoberhaupt zitiert: „Ich habe am Samstag die Räume der JUI in der alten Volksschule geschlossen.“ Weiter heißt es: „Mit dieser Bemerkung hat Bürgermeister Joachim Bieber am Dienstag im Stadtrat auf die unhaltbaren Zustände in der alten Volksschule reagiert.“ Und: „`Ob die Räume jemals wieder geöffnet werden, muss man sehen´, sagte ein sichtlich geschockter Bürgermeister und legte Bilder vor. Sie dokumentierten den schlimmen Zustand nach einer Feier in den Räumen der JUI, die offenbar am Freitag stattgefunden hat. In den Räumen des Kirchenchors darunter sei es zu ernsthaften Wasserschäden gekommen, sagte Bieber, nachdem im Verlauf der Feier ein Spülkasten zerschlagen worden sei. Daraus sei ungehindert Wasser ausgetreten und großflächig durch die Decke gesickert.“ Später wird herauskommen, dass ein Verantwortlicher den Wasserzufluss abgedreht hatte, das nicht sehr neue Rohrsystem der Alten Volksschule aber wohl nicht richtig reagierte. In jedem Fall war es nicht das Verschulden der JUI (die Verantwortlichen hatten mit dem Wasserabschalten richtig reagiert), sondern höchstens eines Einzelnen.

In den Räumen der Jui, vor der Schließung, vermutlich um 2007/2008

Seit über einem Vierteljahrhundert ruht sich die Stadt Miltenberg auf „ihrer“ JUI (Jugendinitiative Miltenberg) aus. Sie ist die billigste Form der offenen Jugendarbeit. Die Stadtoberen konnten ihrer Verpflichtung zur Breitstellung offener Jugendtreffs zu einem minimalen Preis nachkommen. Fast dreißig Jahre Jugendreff in der Alten Volksschule heißt mehr als ein Vierteljahrhundert Selbstausbeutung der Aktiven. Keine vergleichbare Kreisstadt leistet so wenig für die offene Jugendarbeit, selbst erheblich kleinere Kommunen – so das benachbarte Kleinheubach – stellen hauptamtliches Personal an und rüsten ihre Jugendtreffs attraktiv aus.

Die Alte Volksschule in Miltenberg, 2024. Unter dem Dach befanden sich die Räume der JUI.

Wo die eigenverantwortliche Gestaltung des Jugendtreffs früher – bei hoher Identifikation mit dem Treff, gesellschaftlich positiven Ideen und Selbstverwaltung – noch ging, war schon vor Jahren die Grenze der Leistbarkeit der immer wenigeren Verantwortlichen objektiv erreicht. Statt den notwendigen Schritt in die Professionalisierung der offenen Jugendarbeit zu gehen, wurde mit Repression gearbeitet: Politische Veranstaltungen wurden seitens der Stadt untersagt, einzelne ehrenamtliche JUI-Leiter als verlängerter Arm der Stadtverwaltung in die Pflicht genommen. Offene Jugendarbeit ist aber keine verbindliche Vereinsarbeit. Das wissen die Verantwortlichen der Stadt; sie wissen es, weil sie es in Miltenberg sehen – und weil sie die Situation in vergleichbaren Gemeinden kennen. Und auch, weil so etwas sogar in offiziellen Papieren der Bayerischen Staatsregierung zu lesen ist.

In den Räumen der Jui, lange nach der Schließung, vermutlich 2014

Wenngleich objektive Probleme innerhalb der JUI bestanden – die Forderung zur Änderung des Unhaltbaren muss zuerst an die Stadt Miltenberg gehen, die sich seit Jahrzehnten auf der Billig-Jugendarbeit ausruht! Was aber geschah nach der Schließung der JUI? Die Vermutung scheint sich zu bewahrheiten: Aus der JUI soll ein stinknormaler Jugendtreff werden. So schrieb der Bote vom Untermain am 19.12.08: „Der Miltenberger Jugendtreff soll eine hauptamtliche Leitung bekommen. Miltenbergs Bürgermeister Joachim Bieber (CSU) kündigte am Mittwoch in seiner Weihnachtsansprache einen `vernünftigen Neuanfang ohne die Zustände der Vergangenheit´ in der alten Volksschule an. Das Konzept der Selbstverantwortung für die Jugendinitiative Jui sei gescheitert.“ Und: „Derzeit liefen Gespräche innerhalb der Verwaltung, wer den Treff hauptamtlich betreuen könne.“ Wiederholt wurden auch nochmal die bekannten Anschuldigungen: „Jugendliche hatten dort eine wilde Party gefeiert, einen Spülkasten zertreten und einen Wasserschaden verursacht. Außerdem zertrümmerten sie ein Waschbecken und rissen einen Heizkörper aus der Verankerung. Trotz Verbots tranken sie Alkohol und rauchten. Schon in den Jahren zuvor hatte Bieber den Treff zweimal wegen `unzumutbarer Zustände´ schließen lassen.“

In den Räumen der Jui, lange nach der Schließung, vermutlich 2014

Eine alte Forderung ist noch immer richtig: Unabhängiger Jugendtreff!

Ebenfalls zu dieser Zeit trat erstmals eine Gruppe von jungen Leuten in Erscheinung, die z.B. spontan in der Miltenberger Fußgängerzone mit Jongelage und Musik für ihre Idee eines neuen, unabhängigen Jugendtreffs warben und Geld sammelten. Sie gingen in den folgenden Wochen auch weiter an die Öffentlichkeit, schrieben verschiedene Betriebe an wegen leerstehender und kostengünstig zu nutzender Immobilien (was aber erwartungsgemäß erfolglos blieb) und probten trotz winterlicher Temperaturen mit Gartenstühlen, -tischen und politischen Transparenten in den Miltenberger Mainanlagen einen Open-Air-Jugendhausbetrieb. Auf ihrer Internetseite berichteten sie zudem, wie die Situation für die unabhängige und wenig angepasste Jugend in der Kreisstadt heute aussieht. Mit Einrichtung dieser Seite traten sie als Autonome Gruppe Miltenberg in Erscheinung, später als Autonome Jugendinitiative Miltenberg.

Am 26. Februar 2009 konnten sie ihre Ziele auch im Radio Klangbrett (Aschaffenburg-Miltenberg) präsentieren. Fazit: Sie wollen einen von der Stadt unabhängigen Jugendtreff, der weder städtischer Gängelung unterliegt, noch über eine Leiterrunde oder ähnliche Stellvertreterstrukturen verwaltet wird; sie wollen zurück zu regelmäßigen Vollversammlungen als Beschlussgremien. „Damit sind sie die einzigen wirklichen Nachfolger der ehemaligen JUI“ urteilte ein Mitglied der JUI-Gründungsgeneration von 1979.

„Unsere Straßen – Unsere Plätze – Wir sind gekommen, um zu bleiben!“ Unter diesem Motto lief dann am 28. Februar 2009 eine erneute Aktion: Auf dem Marktplatz in Miltenbergs historischer Altstadt wurde von zwei Dutzend jungen Leuten spontan wieder einmal Jugendtreff geprobt. Mit Getränken, Essen, Musik und Transparent führten sie eine bunte Kundgebung durch.

„Miltenberg will JUI wieder öffnen“…

… titelte dann am 6. März 2009 der Bote vom Untermain und bestätigte damit erstmals die Wirksamkeit der jugendlichen Proteste vom vorhergegangenen Samstag: „Bürgermeister Joachim Bieber hat in der Stadtratssitzung am Mittwoch auf den Pressebericht unserer Zeitung am 3. März über die Demonstration für einen autonomen Jugendtreff (JUI) reagiert. Die Stadt wolle den Treff wieder öffnen, sei aber für die meisten Demonstranten nicht zuständig, sagte er.“ Es seien nur zwei Teilnehmer aus Miltenberg gewesen, die anderen aus ganz anderen Ortschaften, meist jedoch aus dem Landkreis Miltenberg. Woher der Bürgermeister das weiß? Nun, die Polizei wird es ihm verraten haben nach entsprechender Personalienfeststellung. Bieber „erkenne deshalb keinerlei Zuständigkeit der Stadt Miltenberg für Jugendliche aus den genannten Orten außer Miltenberg“ schreibt der Bote weiter. Und diese seltsame Argumentation erinnert fatal an die entsprechenden Argumente von vor 30 Jahren, als zuletzt um einen selbstverwalteten Jugendtreff in Miltenberg gekämpft wurde. Schon damals wurde betont, die Stadt Miltenberg sei nur für Miltenberger/innen zuständig. Und schon damals wurde geantwortet: Miltenberg ist Kreisstadt und damit ein Zentrum des Landkreises, woraus besondere Aufgaben resultieren; dort befinden sich zudem viele (gerade auch weiterführende) Schulen, in denen Schüler/innen aus den verschiedensten Gemeinden sitzen, die selbstverständlich auch ihre Freizeit zusammen verbringen wollen – und zwar an ihrem Schulort. Daher ist eine Abgrenzung gar nicht möglich. In Miltenbergs Geschäften sollen ja auch nicht nur Miltenberger/innen einkaufen!

Werbe-Video der Jugendinitiative, 2010

Joachim Bieber wirkte vor 30 Jahren als hoher Beamter am Landratsamt und war schon damals an der Auseinandersetzung um Jugendtreffs beteiligt; er kann also nicht sagen, dass er diese richtige Argumentation nicht kennt.

Einen neuen Jugendtreff soll es dennoch geben: „Die Vergangenheit habe aber gezeigt, dass eine Selbstverwaltung der Räume nicht realistisch sei. Um die JUI wieder zu öffnen, sei ein Personalkonzept notwendig, über das er, Bieber, in der vergangenen Sitzung des Hauptverwaltungsausschusses (HVA) gesprochen habe. Weitere Schritte würden in den Haushaltsberatungen des Stadtrates in der Sitzung am Mittwoch, 25. März, erfolgen, kündigte der Bürgermeister an. Da der HVA grünes Licht für Biebers Konzept gegeben habe, werde der Stadtrat dann über die Einstellung eines Jugendpflegers für die offene Jugendarbeit sprechen.“

Eine weitere Aktion …

… am 7. März brachte erstmals die Feuerwehr auf den Plan: Nach einer spontanen Demonstration von ca. 20 Personen, die mit mehreren Transparenten vom Bahnhof über die Brücke und durch die Innenstadt zum Markplatz führte, wurde dort kurz gehalten und dann zum Engelplatz vor das Rathaus marschiert, wo dasselbe mit Eiern beworfen wurde. Die Polizei kam, ließ aber der Feuerwehr den Vortritt, die das Rathaus und den Vorplatz abspritzte, um die Eierreste zu entfernen. Verschiedentlich sollen auch Demonstrierenden „zufällig“ vom Wasserstrahl getroffen worden sein. Zumindest eine Person sei offenbar als Rädelsführer erfasst worden. Später wurde gegenüber der Autonomen Jugendinitiative kritisiert, dies sei eine Aktion gewesen, die niemandem vermittelt werden konnte.

Die Polizei einmal ganz anders

Mit dem Samstag, 14. März kam es für ca. 20 junge Leute am Miltenberger Bahnhof zu einer recht interessanten Erfahrung: Zwei Polizeibeamte, die nach eigenen Angaben extra aus Würzburg angefordert worden waren, sollten aufpassen, dass sich nicht wieder ein Demonstrationszug am Bahnhof formieren konnte. Ein beteiligter Jugendlicher: „Endlich mal Polizisten, mit denen man gut reden kann, und die einem auch wirklich zuhören.“ Denn diese Beamten zeigten sich locker, kommunikationsbereit und machten überhaupt nicht den Eindruck, ernsthaft gegen junge Leute vorgehen zu wollen. Sie müssten halt hier ihren Dienst schieben, meinten sie zu den Jugendlichen, die überhaupt nicht daran gedacht hatten, an diesem Samstag in Miltenberg zu demonstrieren, waren zahlreiche der Aktiven doch an diesem Wochenende in Frankfurt bei der Demonstration gegen die Pelzmesse Fur & Fashion.

Es tut sich was – aber was?

„Eine halbe Stelle für einen Jugendpfleger hat die Stadt Miltenberg in ihrem neuen Haushalt eingeplant. Damit reagiert sie auf Forderungen nach einen Jugendtreff, die autonome Jugendliche zum Teil mit Eierwürfen gegen das Rathaus bekräftigt hatten.“ So berichtet im März 2009 der Bote vom Untermain. Und weiter: „Schon jetzt betonte aber Bürgermeister Joachim Bieber (CSU), dass sich der Jugendpfleger nur um die örtliche Jugend kümmern solle. `Nicht unser Auftrag ist die Sorge um Jugendliche, die aus der gesamten Region nach Miltenberg kommen.´ Wie der Pfleger die einen von den anderen unterscheiden solle, sagte Bieber allerdings nicht.“ Das hat der Bote Recht. Darüber hinaus können Jugendliche aber nicht nur nicht sauber in Gute (Miltenberger) und Schlechte (Auswärtige) getrennt werden, es ist auch gar nicht sinnvoll und erst recht nicht zumutbar, hier eine Trennung vorzunehmen. Darauf wurde schon hingewiesen. Und es wurde auch recherchiert, dass der Herr Bürgermeister diese Argumente seit Jahrzehnten kennt. Starrsinn? Realitätsverlust? Oder nur Hilflosigkeit angesichts einer Jugend, die er nicht überreden kann, seinem Musikverein beizutreten?

Ansonsten ergeht man sich in Miltenberg weiter in den bekannten Argumentationen: „Einem Jugendzentrum in Eigenregie wie in den vergangenen Jahren erteilten die Politiker eine Absage. `Es ist leider nicht möglich, den Jugendlichen die Räume zu überlassen. Es ist zu viel Schaden entstanden´, sagte Elisabeth Büchler (CSU). Cornelius Faust (Liberale Miltenberger) legte noch eins drauf: `Die Probleme, die eine bestimmte Gruppe Jugendlicher der Stadt bereiten, macht den Einsatz professioneller Sozialarbeiter erforderlich.´“ Jaja, man hat es schon schwer mit der heutigen Jugend … Nebenbei: Eine halbe Stelle wird kaum ausreichend sein. Der Jugendtreff bliebe dann weiterhin auf jugendliches Aufsichtspersonal bzw. Verantwortung der Besucher/innen angewiesen. Und das will man doch eigentlich verhindern.

Podcastfolge zum Thema:

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#3 – Aktionen mit hohem Freizeitwert
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Miltenberg geht baden

Ihre Aktion mit dem bis dahin wohl größten Freizeitwert führte die neue Jugendtreff-Bewegung in Miltenberg am 21. Mai durch. Unter dem Motto „Miltenberg geht baden – Sonnen für ein autonomes Zentrum“ taten knapp zehn junge Leute auch genau das: baden und sonnen. Und zwar abwechselnd am Marktplatz – einschließlich Badespaß im historischen Marktbrunnen – und am Engelplatz, wo der Fontänenbrunnen zum plantschen einlud. In Badebekleidung, mit Frisbee-Scheibe, Wasserball und einem Transparent machten die Jugendtreff-Befürworter/innen auf ihr Anliegen aufmerksam. Die Reaktionen der zahlreichen Passanten waren durchgehend positiv. Aus einer mitgebrachten Gießkanne wurde das Fahrzeug der vorbeischauenden Polizeibeamten mit Wasser begossen und gereinigt. So kam zumindest das Fahrzeug der Beamten zu etwas Badespaß, die Beamten selbst wollten nicht mitbaden.

Am 23. Mai kam es zum zweiten Sonnenhappening der Jugendtreff-Bewegung in Miltenberg. Ca. 15 junge Leute und zwei Transparente, dazu eine Unmenge von Badeschaum waren am Engelplatz in Miltenberg zu bewundern, direkt vor dem Rathaus. Die Forderung: Ein unabhängiger Jugendtreff in Miltenberg. Die Parolen diesmal: „Sun, Sea and Autonomie“ und wieder „Miltenberg geht baden – sonnen für ein autonomes Zentrum!“

Ein musikalisches Statement aus der Jugendinitiative, 2009

Bei einer spontanen Aktion am Montag, 8. Juni 2009 trugen zehn junge Leute ein Transparent durch die Innenstadt und verteilen Flyer mit ihrer Internetadresse und dem Hinweis, dass in Miltenberg nichts erlaubt ist. Das Ganze war wiederum Teil der Aktivitäten für einen unabhängigen Jugendtreff. Nachdem ganze zwei Böller gezündet wurden, tauchten acht Polizeibeamte auf, durchsuchten die jungen Leute auf offener Straße wie Schwerverbrecher, untersuchten die Inhalte von Handys und telefonierten mit Kollegen. Dabei wurde von diesen nachgefragt: „Wie steht es mit eurer Randale?“ Wir merken: Zehn Leute, ein Transparent, 100 Flyer und zwei Böller sind eine Randale! Zumindest in Miltenberg. Das ist der Stand der Ereignisse im Juni 2009.

mb

Dieser Beitrag wurde 2009 erstellt auf der Basis von Artikeln aus kommunal.blogsport.de – Themen & Kommentare – Texte zur Geschichte, Politik und Kultur im Raum Aschaffenburg-Miltenberg.

Dokumente zur Situation 2010 und 2011 finden sich in diesem Artikel.


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2 Antworten zu „Es geht voran“

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